Bücher, Schwindel, Babylon

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 7. 2004, Nr. 163 / Seite 35

Spiegel, die sich im Spiegel betrachten: Eine Installation von Matej Krén in Bratislava

Werner Spies

BRATISLAVA, im Juli Der Besucher, der in diesem Sommer Bratislavas Städtische Galerie besucht, macht eine verwirrende Erfahrung: Der slowakische Künstler Matej Krén lockt in einen babylonischen Canyon. Aus Biichern hat er steile Wände gebaut. Die vielfarbigen Rücken, die er wie Backsteine übereinanderschichtete, bringen ein funkelndes Kaleidoskop zustande. Dann und wann unterbrechen, wie Pausenzeichen., weiße Schnittkanten die Missoni-Herrlichkeit. Auf einem sechseinhalb Meter langen Laufsteg aus Spiegeln durchschreitet man die Installation. Über dem Kopf, an den Wänden überall Spiegel. Sie multiplizieren das Gesehene ins Endlose. Man denkt an die Definition des Unendlichen, über die Dadaisten und Surrealisten nachsannen: ein Spiegel, der sich im Spiegel betrachtet. Links und rechts steigen und fallen, sich nach oben und unten ins Endlose verlierend, die Wände der babylonischen Bibliothek.
Von der Konstruktion, zu der als Baumaterial Glas und viele Tausende Publikationen dienen, geht eine Wirkung aus, der sich niemand entziehen kann. Eine Mischung aus unbeherrschbarem. physischem Schwindelgefühl und intellektuellem Taumel kommt zustande. Am Eingang, an der Schwelle, von der aus man die Installation betritt, bleibt dieser Mechanismus übersehbar. Man begreift, wie der Künstler sein Kabinett gebaut hat, wie ein optischer Trick die Bücher endlos multipliziert und die Vorstellung von Unendlichkeit erreicht. Doch sobald der Besucher auf dem verspiegelten Fußboden in den Biicherberg wie in einen epistemologischen Scanner vordringt, verliert er die Möglichkeit, das Schwindelgefühl, das ihn ergreift, durch das Wissen um die Fabrikation des Effekts zu mindern. Der Effekt. auf den Krén in seiner jüngsten Arbeit zurückgreift, ist für jeden, der sich auch nur ein wenig im Bereich von Op-art umsieht, verständlich.
In Bratislava besteht für die Kenntnis der geometrischen Abstraktion, die zu solch verwirrenden Verfahren greift, eine gute Voraussetzung. Nicht weit von der städtischen Galerie gibt es, in der Zámocnícka, ein Privatmuseum, das den kinetischen und konstruktivistischen Arbeiten des Künstlers Milan Dobeš (F.A.Z. vom 2. Januar 2002) gewidmet ist. In den Räumen des Hauses finden das Jahr über Ausstellungen statt, die Künstlern gelten, die sich auf den Umgang mit Spiegel, Licht und Strukturen beschränken. Es fällt auf, wie in all diesen Arbeiten das, was einer der Väter dieser Richtung, Josef Albers, "factual fact", den berechenbaren, definierbaren Teil der Kunst, genannt hat, fieberhaft und unberechenbar in Wirkung und Trance umschlägt. Aus einfachen Mitteln entstehen Raumvorstellungen und Wirkungen, die das Auge in die Irre schicken.
Man könnte meinen, dem Museum gehe es in diesem postkommunistischen Erwachen darum, den Materialismus ad absurdum zu führen. Denn in den Werken taucht das auf, was man den potemkinschen Bluff nennen könnte. Die Werke, die zustande kommen, überbrücken die Kluft zwischen Perzeption und Apperzeption. Sie bieten mit einfachen Mitteln einen geradezu irrationalen Mehrwert. Deshalb können im Umkreis der Vorschläge, die von den Künstlern gemacht werden, optische Täuschungen, die wir aus psychologischen Lehrbüchern kennen, als Rezepte für Illusion und Irreführung herhalten. Die optischen Täuschungen funktionieren wie ein Perpetuum mobile: Das Auge fällt ihnen unwiderruflich immer wieder zum Opfer. Von solchen Erfahrungen geht Matej Krén aus. Seine Installation findet in der langen Geschichte Platz, die sich mit Metamorphosen und Blasphemien des Buches beschäftigt.
Im manieristischen sechzehnten Jahrhundert war es verbreitet, Bibliotheken dem Betrachter zu mit dem Schnitt aufzustellen. Auf diesen wurden die Titel aufgetragen. Aufsehenerregend war die Bibliothek der Brüder Pillone in Belluno. Sie ließen den Schnitt der Bücher von Cesare Vecellio, einem Neffen Tizians, mit figürlichen Kompositionen bemalen. Zusammengestellt ergab diese Büchersammlung eine unvermutete visuelle Ablenkung vom Geschriebenen. In mehreren Arbeiten hat sich Krén zuvor schon mit der Lektüre und mit der Vermittlung von Wissen auseinandergesetzt. Auch bei ihm verschwindet der Gedanke an einen bestimmten Autor, an einen Titel oder an ein Erscheinungsjahr. Es ist leicht, darin ein Lamento über Rolle und Zukunft des Buches zu entdecken. Zeitenwende, das Ende dessen, was Schopenhauer "das papierene Gedächtnis der Menschheit" nennt, all dies läßt sich assoziieren. Doch der diffuse gesellschaftskritische Aspekt dieser zu einer bezaubernden Pixel-Steilwand übereinandergeschichteten Bücher, ist nicht das, was das Werk Matej Kréns auszeichnet. Es ist die konkrete Mutlosigkeit des Wissenden, die in den Vordergrund rückt. Und sie kann sich an das Kapitel der Kunst halten, das immer schon über Bücher meditierte.
Die Aufforderung an die Künstler, sich mit diesem Mediurn zu befassen, könnte man der "Offenbarung des Johannes" entnehmen. Die Übergabe des Buches durch den Engel wird mit dem Befehl verbunden: "Nimm. hin und verschling's! Und es wird dich im Bauch grimmen; aber in deinem Munde wird's süß sein wie Honig." Viele Künstler sind dieser Aufforderung nachgekommen, haben Bücher verschlungen, haben sie zur Lieblingsspeise ihrer Arbeit gemacht. Denken wir an Marcel Broodthaers, der Baudelaire und Mallarmé umspielte, an Graubners "Sickerbuch", das eine Hommage an Ungaretti darstellt, an Dieter Roth, der eine köstliche Beschreibung, die wir bei Herman Melville finden, zu illustrieren scheint. Der Autor berichtet in seinem Roman "Mardi" (1849) von verschimmelten Texten, die die Gestalt von Bologneser.
Würstchen annehmen, Würstchen, die wiederum nach Käse duften. Auch Morels Buch über die Suppe, dem der Verfasser die Form eines Tellers gegeben hat, gehórt in die Reihe solch "sprechender" Bücher. Oder denken wir an die eindruckvollsten Beispiele unserer Zeit, an Anselm Kiefers gewaltige Bücher. Sie erinnern an die Auslagefolianten des Sonnenkönigs. Diese lagen auf Präsentiertischen. Nur der obere, sichtbare Deckel und der Rücken waren vom Buchbinder gestaltet worden. Es waren Werke, die man nicht konsultierte, sondern in liturgischer Ehrfurcht aufklappte. Auf diesen Seiten wurden Siege und Landnahmen gefeiert - das Gegenteil von alle dem. was Kiefers pessimistische Geschichtsvision anbietet. In dessen. bleiernen, saturnischen. Grübelfolianten geht es um Unwiederbringliches, um Erinnerungsreste.
Zum Vergleich mit Kréns Installation bietet sich schließlich auch eine Arbeit an, die der Krefelder Hubertus Gojowczyk vor langen Jahren vorlegte. Die Ausstellung ,.Durch das Labyrinth", die neulich das Werk von Gojowczyk ausbreitete, erinnerte an ,Die Tür zum Lesezimmer". Die Arbeit gehörte zu den stärksten Stücken, die 1977 auf der documenta in der Sonderschau "Künstlerbuch" zu sehen waren. Der Künstler begleitete seinen Beitrag mit dem Kommenfar: "An der Büchermauer gibt es nichts mehr zum Lesen; die Bücher kehren dem, der vor der zugemauerten Tür steht, nicht den Rücken zu. Nur der Schnitt ist zu sehen und wenig vom Einband."
Krén hat diese Stimmung in ein funkelndes Nirwana übersetzt. Man spürt, trotz all dieser allmächtigen Gegenwart des Buches, verflüchtigt sich etwas, endet die bunte Prachtentfaltung in Melancholie. Krén treibt nicht nur sein Spiel mit dem EditionSuhrkamp-Regenbogen, sondern auch mit den Formaten. Alle Bücher haben, über den Daumen gepeilt, dieselbe Stärke. Auf diese Weise kommt eine irisierende, pointillistische Wirkung zustande. Das Ergebnis läßt sich mit der Absicht der Impressionisten vergleichen, die Festigkeit der Welt aufzulösen. Der Vergleich mit dem, was Monet und seine Zeitgenossen vorführten, ist keinesfalls nur formaler Art. Der Impressionismus begann an dem durch Auge und Verstehen abgesicherten. Besitzstand zu zweifeln und versetzte Landschaften, Dinge und Menschen in einen flüchtigen Aggregatzustand. Etwas von diesem, mit euphorischer Farbenpracht überdeckten Nihilismus spricht sich auch in der unbenutzbaren übereinandergestapelten Bibliothek aus. Inhalte und Meinungen verflüssigen sich. Unser Sehen und Verstehen scheinen gemeinsam in diese Schlucht des Lesens und Denkens abzustürzen. Wie die Welle über dem Surfer, schlägt das Meer der Bücher über dem Betrachter zusammen.

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